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NEUES
AUS DER
MUSIKWELT
M
ein Standard stammt dieses
Mal von J. Fred Coots (Musik)
und Haven Gillespie (Text). Die Na-
men sind auch mir keineswegs ge-
läufig, kommen beide doch nicht
aus dem Jazzbereich, sondern haben
in der ersten Hälfte des
20
. Jahr-
hunderts ihre ganze Schaffenskraft
den „Vaudeville Shows“ zur Verfü-
gung gestellt - vergleichbar in etwa
dem, was wir im Europa der
30
er Jah-
re Variete nannten, also gemischte
Programme aus Akrobatik, Tanz, Ge-
sang, Komik etc. So bedeutete „If You
Go To My Head“ für ihre Urheber eher
einen einmaligen Ausflug in die Ge-
filde des Jazz.
Ich kann mich noch gut an die Zeit
erinnern, als in den USA Jazzkritiker
alljährlich die ihrer Meinung nach
besten Musiker des lahres auswähl-
ten. Es war damals spannend zu er-
fahren, ob gerade im Konzert erleb-
te Musiker geehrt wurden oder ob
wir in Deutschland auf einen Besuch
der Sieger zu warten hatten. Da in
den USA die Zeitschriften „Down
Beat“, „Metronome“ und „Playboy“
getrennt abstimmten, kam es natur-
gemäß häufig zu unterschiedlichen
Ergebnissen. Im Jahr
1956
waren
JAZZ
Barney Kessel/Shelly Mann/Ray Brown:
The Poll Winners
von Thomas Hintze
Aus seiner umfangreichen CD-Sammlung
fischt der Jazz-Kenner und -Liebhaber
Thomas Hintze für die STEREO-Leser jeden
Monat die schönsten Schätze. Im Folgen-
den widmet er sich den Standards.
Meine Jazz Standards
You Go To My Head
Musik ist von filigranem Charakter,
was auch für den Schlagzeuger zu-
trifft, der vornehmlich Besen ein-
setzt, und klingt somit großartig
durchhörbar.
Da
kein
Melodie-
instrument mitspielt, übernimmt die
Gitarre das Kommando, wobei die
beiden Rhythmiker sie sehr diskret,
aber ungemein swingend unterstüt-
zen. Weil der Standard hier eher als
eine Ballade vorgetragen wird, be-
kommt man die Gelegenheit, dem Ti-
tel in all seinen Nuancen zu lau-
schen. In dem Zusammenhang muss
ich noch einen Tipp loswerden. Bit-
te geben Sie bei diesem Album et-
deutlich zurücknimmt, auch wenn
seine Handschrift unverkennbar ist.
Sicher ließe sich recherchieren, dass
auch diese Musiker irgendwann ein-
mal ganz oben im Jazz Poll standen.
Bei ihren Aufnahmen aus dem Jahre
1962
spielen sie den Titel „You Go To
My Head“ ganz anders als Kessel &
Co., wodurch das Stück mehr Tempo
und Drive bekommt. Gerade diese
Unterschiede machen nicht zuletzt
einen Vergleich so spannend. Neben
dem Trompeter Freddie Hubbard
spielt auch hier wieder der Gitarrist
Jim
Hall
eine
melodieführende
Rolle.
an, dass er sich in der Besetzung gut
aufgehoben fühlte: eine durch und
durch gelungene CD.
Es gibt heute leider nur wenige
Jazzsängerinnen, die die Tradition ei-
ner Ella Fitzgerald, Billie Holiday
oder Sarah Vaughan fortführen kön-
nen. Eine große Ausnahme ist
Dian-
ne Reeves.
Selten haben Jazzsänge-
rinnen auch außerhalb ihres Wir-
kungskreises eine derartige Beach-
tung erfahren, sie wurde mit Aus-
zeichnungen geradezu überhäuft.
Ein Höhepunkt für sie war sicher der
Auftritt mit den Berliner Philharmo-
nikern anlässlich des Silvesterkon-
zerts
20 0 3/20 0 4
mit einem Gersh-
win-Programm, das ich leider nur im
Fernsehen verfolgen konnte. Diese
große Künstlerin interpretiert „If You
Go To My Head“ nun in ihrer unver-
gleichlichen Art: Sie ist in der Lage,
mit dem „Material“ frei umzugehen,
eher wie eine Instrumentalistin, und
lässt sich dann von der Trompete Ni-
cholas Paytons sehr diskret beglei-
ten. Ihre CD
„A Little Moonlight“
(Blue Note) ist nicht nur eine Emp-
fehlung in Sachen „If You Go To My
Head“, sondern bietet auch Gele-
genheit, eine Ausnahmekünstlerin in
sich die Spezialisten aber einig und
wählten Barney Kessel (Gitarre), Ray
Brown (Bass) und Shelly Mann
(Schlagzeug) zu ihren Musikern des
Jahres in der jeweiligen Instrumen-
tenkategorie. Da lag es nicht fern, ei-
ne Platte mit allen drei zu produzie-
ren, auch wenn die Besetzung da-
durch etwas außergewöhnlich wur-
de. Letztlich war das Resultat aber
eine wunderbare Produktion mit
dem Titel
„The Poll Winners: Barney
Kessel with Shelly Mann and Ray
Brown“
(Contemporary). Was diese
Aufnahmen so einzigartig macht, ist
ihr kammermusikalischer Stil. Die
was mehr Geld aus und greifen Sie
zurXRCD von JVC (im Programm von
Sieveking Sound). Hier wurde beim
Remastering wirklich hervorragende
Arbeit geleistet.
Die nächste Empfehlung wird
durch einen Bläser mitgeprägt: den
Trompeter Freddie Hubbard, der auf
der CD
„Interplay Bill Evans“
(Ri-
verside) mit Percy Heath (Bass), Jim
Hall (Gitarre), Philly Joe Jones
(Schlagzeug) und dem „Leader“
Bill
Evans
(Klavier) zusammenspielt. Es
ist aber insofern eine außerge-
wöhnliche Einspielung, als sich Bill
Evans zugunsten seiner Kollegen
Beim Album
„Benny Baitey in
Sweden“
(Fresh Sound) nimmt un-
ser Standard sozusagen einen gol-
denen Mittelweg zwischen den bei-
den vorherigen Versionen ein: Das
Tempo ist eher entspannt, wenn die
Rhythmusgruppe nach Baileys Ein-
leitung auf der gestopften Trompe-
te einsetzt. Die hier genannten Mu-
siker, die je nach Titel wechseln,
sind mir nahezu unbekannt, was
aber wieder einmal deutlich macht,
dass schon im Jahr
1957
in Europa
ein großes Reservoire an hervorra-
genden Jazzmusikern existierte.
Man hört jedenfalls Baileys Spiel
Sachen Jazzgesang kennen und lie-
ben zu lernen. Ich bin mir sicher,
dass Ihnen diese Sängerin gewis-
senmaßen genauso „zu Kopfsteigen
wird“ wie unser Standard, dessen Ti-
tel frei übersetzt in etwa dies aus-
drückt.
Auch wenn deren Schöpfer nicht
zu den Großen des American Song-
book gehören, haben sie doch mit
„You Go To My Head“ ein Lied ge-
schrieben, das von zahlreichen Jazz-
musikern bis in die heutige Zeit in ihr
Repertoire aufgenommen wird. Ich
wünsche Ihnen viel Spaß beim Hö-
ren, Ihr Thomas Hintze.
130 STEREO 3/2012